Archäologie schreibt Geschichte
Bis zum 10. Jahrhundert existierten in Kasachstan nur schriftlose Kulturen. Das Land beheimatet indes einen wahren Schatz an vielfältigen materiellen Sachkulturen, die von der Archäologie zum Sprechen gebracht werden.
In Ländern ohne eine weit in die Vergangenheit reichende Historiografie kommt der Archäologie eine führende Rolle zu, wenn es um die Rekonstruktion der eigenen Geschichte geht. Dies gilt auch für Kasachstan, wo es bis zur graduellen Islamisierung der südlichen Gebiete ab dem 10. Jahrhundert nur schriftlose Kulturen gab. Ausnahmen sind ein Einzelfund mit ein paar nicht entschlüsselten runenähnlichen Zeichen und ein weiterer Einzelfund frühsogdischer Inschriften. Ältere schriftliche Zeugnisse beschränken sich auf knappe Erwähnungen in Proklamationen fremder Herrscher und in Chroniken ausländischer Historiker. Zerstörungen durch Invasoren wie Dschingis Khan um 1219/20, Timur Lenkh nach 1370 und die buddhistischen Zungaren im 17. und 18. Jahrhundert verwandelten zudem zahllose architektonische Zeugnisse in stumme Schutthalden. Kurz: Ohne Archäologie gäbe es keine Geschichte Kasachstans, bloss Legenden und Überlieferungen.
Drei Klimazonen
Kasachstan, das mit 2,7 Millionen Quadratkilometern Fläche fünfundsechzig Mal grösser als die Schweiz ist, aber nur doppelt so viele Einwohner zählt, beheimatet einen wahren Schatz an vielfältigen materiellen Sachkulturen. Das Land besitzt seit Jahrtausenden drei Klimazonen – ganz im Norden einen schmalen Gürtel Waldsteppe mit anschliessender halbtrockener Steppe, im mittleren Bereich Wüstensteppe, im Südwesten Wüste und im Südosten Wüste und Gebirgszüge. Die unterschiedlichen Klimatypen führten zu verschiedenen Ökonomieformen wie Jagd- und Sammelwirtschaft, sesshafter Landwirtschaft, mobiler Viehzucht sowie urbanem Handel. Infolge von Klimaschwankungen, die sich mittels Bohrkernen von Seesedimenten, Analyse von Wachstumsringen an Bäumen und Pollensequenzen aus Mooren rekonstruieren lassen, verschoben sich die Grenzen der Klimazonen. Daher kann die Archäologie in einer bestimmten Region auf Relikte unterschiedlicher Wirtschafts- und Lebensformen stossen. Die Einwanderung verschiedenster Völker trug zusätzlich zur kulturellen Vielfalt bei.
Die Archäologie Kasachstans ist eng mit der Archäologie Südsibiriens verknüpft. Denn es waren Geografen, Bergbauprospektoren und Botaniker, die von russischen Zaren nach Sibirien und Nordkasachstan ausgesandt wurden und ab dem frühen 18. Jahrhundert «nebenbei» Informationen über vergangene Kulturen sammelten. Entscheidende Impulse gingen von Zar Peter dem Grossen (Regierungszeit 1696–1725) aus, der befahl, in Gräbern entdeckte Goldobjekte nicht einzuschmelzen, sondern zum wissenschaftlichen Studium nach St. Petersburg zu schicken und Skizzen der Fundorte anzufertigen. Damit versuchte Zar Peter, die seit Jahrhunderten grassierende Grabräuberei zu unterbinden. Als Erster führte der deutsche Botaniker und Geograf D. G. Messerschmidt im Jahr 1722 im südsibirischen Minusinsker Becken Ausgrabungen an einigen Kurganen (Hügelgräbern) skythischer Reiterkrieger durch, wobei er feststellen musste, dass hier Grabräuber am Werk gewesen waren. Der schwedische Kriegsgefangene Philipp Johann von Strahlenberg, der ihn begleitete, publizierte im Jahr 1730 einen Teil der Forschungsergebnisse Messerschmidts und berichtete als Erster von runenähnlichen Zeichen auf mannshohen Steinstelen. Er erkannte, dass diese «Runenschrift» nicht mit den germanischen Runen verwandt war, und vermutete eine Entwicklung aus «parthischen Buchstaben», wodurch er ganz richtig einen Zusammenhang mit der sogdischen bzw. aramäischen Schrift herstellte. Damit begründete Strahlenberg die Archäologie der skythischen und alttürkischen Kulturen.
Eiskurgane
Als «Vater der Archäologie» Kasachstans gilt Vasily V. Radlov, der im Jahr 1865 in Berel im Norden Kasachstans sogenannte Eiskurgane des 5. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. erforschte. Eiskurgane entstehen, wenn nach einer Bestattung Wasser in die Grabkammer fliesst und zu einer kompakten Eislinse gefriert, die alle organischen Stoffe umschliesst und sie vor der Vermoderung bewahrt. Da die Steinaufschüttung über der Grabkammer die Wärme der Sonneneinstrahlung schlecht leitet, verhindert sie ein Auftauen der Eislinse bis zum Moment der Graböffnung. Radlov ging wenig zimperlich vor: «Der Boden war festgefroren. Ich liess trockenes Holz herbeischaffen, auf dem Boden der Grabhöhle aufschichten und dasselbe anzünden, darauf die obere, aufgetaute Schicht der Erde entfernen» – heute würde man die gesamte Eislinse aus der Erde sägen und ins nächste Kühlhaus fliegen. Spätere Ausgrabungen in Berel durch den kasachischen Archäologen Zajnolla Samashev in den Jahren 1998–2001 brachten einen reichen Fund der vorchristlichen reiternomadischen Skythen (Saken) ans Licht. Auffallend waren die Bestattungen geopferter Pferde, die Ledermasken mit einem mit Blattgold umwickelten Hirsch- oder Steinbockgeweih trugen. Vereinzelt sass zudem ein Raubvogel oder Greif zwischen den Ohren der Maske. Damit erhielten die Pferde, die den Totenwagen zogen, auf magische Weise zusätzlich die Attribute der anderen Tiere, die im theriomorphen Weltbild der Skythen eine herausragende Rolle spielten. Die Opferung von Pferden, die man mit artfremden Attributen versah, war schon bei den Vorfahren der Saken ein verbreiteter Brauch, wie sich an den bronzezeitlichen Petroglyphen (Steineinritzungen) von Tamgaly im Süden Kasachstans erkennen lässt.
«Gold hütende Greifen»
In Berel und in Pazyryk im benachbarten russischen Altai fand man mehrere einst mit Blattgold überzogene Holzfiguren von Greifen sowie knöcherne Zierstücke vom Pferdezaumzeug in Gestalt zweier einander gegenüberstehender Greifenköpfe; diese Funde erinnern an Herodot, der die im goldreichen Altai Kasachstans und Sibiriens lebenden Skythen als «Gold hütende Greifen» bezeichnete. Das Greifenmotiv findet sich auch prominent im skythischen Schmuck und erinnert an die etwa gleichaltrigen Greifenprotome der achämenidischen Kapitelle von Persepolis – die damaligen Saken standen nachweislich in Kontakt mit den Achämeniden. Zudem zeigten anthropologische Untersuchungen an mumifizierten Toten, dass in den Kurganen früheisenzeitlicher Skythen europide Menschen dominierten, in den späteren Gräbern aber mongolide Elemente überwogen, was auf eine entsprechende Einwanderung von Mongoliden hinweist.
Während die bedeutenden kasachischen Nekropolen von Tasmola, Taldy und Cilikty zur früh- und mittelsakischen Gruppe gehören, die Parallelen zum Fürstenkurgan Arzhan 2 in Tuva aufweist, zählen die Nekropolen von Berel, Bessatyr und Issyk östlich von Almaty zur jüngeren sakischen Gruppe. Als der berühmte kasachische Archäologe Kemal Akishev (1924–2003) im Jahr 1969/70 einen der 67 Kurgane von Issyk ausgrub, war zwar die zentrale Grabkammer geplündert, doch eine Nebenkammer barg die unangetastete Bestattung eines jungen Saka-Fürsten in prachtvoller Kleidung. Der «Goldene Mann von Issyk» aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. trug eine rote Jacke und rote Stiefel, die mit Tausenden aufgenähten Goldplättchen geschmückt waren. Auffallend war die spitz zulaufende, etwa 60 Zentimeter lange Kopfbedeckung. Zuoberst stand eine goldene Steinbockfigur, darunter folgten goldüberzogene Figürchen (gehörnte oder geflügelte Pferde, auf Bäumen sitzende Vögel, Schneeleoparden vor dem Hintergrund schroffer Bergspitzen und Steinböcke) sowie vier 30 Zentimeter lange goldüberzogene Pfeile. Der junge Fürst trug die wichtigsten Elemente des mythischen Universums der Saken auf seinem Haupt. Der hohe Kopfputz weist nicht nur Ähnlichkeiten auf zu Funden aus dem russischen Altai, sondern er war auch bei weiter westlich lebenden Skythen verbreitet. Die persischen Achämeniden nannten einen östlich des Kaspischen Meers lebenden Stammesverband Saka tigraxauda, die «spitzmützigen Saken», und Herodot schrieb: «Die skythischen Saken trugen auf dem Kopf eine spitz zulaufende Mütze, aufrecht und steif».
Bis heute nicht entziffert
Der Fund einer silbernen Schale mit einer runenartigen Inschrift in zwei Zeilen in Issyk war ebenfalls einzigartig. Es handelt sich um die älteste bekannte sakische Inschrift, und bis heute hat man sie nicht entziffert; die Zeichen weisen eine entfernte Ähnlichkeit mit ein Jahrtausend späteren alttürkischen Inschriften aus der Mongolei und aus Südsibirien auf. Die zweitältesten Schriftdokumente Kasachstans wurden zwischen 1992 und 2006 im Süden bei Kultobe am Fluss Arys, einem Nebenfluss des mittleren Syr Darya, gefunden. Es handelt sich um dreizehn Fragmente und zwei fast vollständige Texte auf Tontafeln, die mit frühsogdischen Schriftzeichen in frühsogdischer Sprache beschrieben sind. Wie der kasachische Archäologe Aleksander Podushkin feststellen musste, waren die ersten Tontafeln schon in den 1940er Jahren aufgetaucht. Doch weil die leseunkundigen Einheimischen diese als Koranverse interpretierten und damals der Besitz eines Korans den Argwohn der kommunistischen Behörden provozieren konnte, wurden die Tonepigramme im unterirdischen Mauerwerk muslimischer Gräber weiterverwendet, was deren archäologische Ausgrabung ausschliesst. Diese Inschriften aus dem späten 2. oder frühen 3. Jahrhundert n. Chr. sind nicht nur mindestens hundert Jahre älter als die 1907 im Lop Nor, Xinjiang, entdeckten «alten sogdischen Briefe», die bis anhin als die frühesten sogdischen Schriftdokumente galten, sondern sie berichten auch, dass Kultobe von der sogdischen Tetrapolis Samarkand, Buchara, Kisch (Shahrisabz) und Qarschi gegründet wurde, mit Unterstützung von Schasch (Taschkent).
Millionen wildlebender Pferde
Weniger spektakulär, aber wissenschaftlich mindestens ebenso bedeutend wie die Funde von Issyk war die vom kasachischen Archäologen Victor Zaibert in den 1980er Jahren erforschte Jäger- und frühe Viehzüchterkultur von Botai, die ins Chalkolithikum (Kupfersteinzeit) datiert. Bei Botai im Nordosten Kasachstans entdeckte Zaibert nicht nur eine Siedlung von 150 runden und ovalen Grubenhäusern, deren kuppelförmige Dächer mit Rasensoden bedeckt waren, sondern auch die Knochen von 70 000 Pferden. Im 4. Jahrtausend v. Chr. herrschte im Norden Kasachstans ein feuchteres Klima als heute, und die Steppe ernährte Millionen wildlebender Pferde. Die Menschen der Botai-Kultur jagten die Pferde für ihr Fleisch und begannen auch, sie zu züchten. Spuren einfacher Wangenstücke und Abnützungsspuren an Gebissen lassen vermuten, dass ab etwa 3500 v. Chr. primitive Schnur- oder Knochentrensen verwendet wurden, was auf zugerittene Pferde schliessen lässt. Die klimatische Austrocknung Nordkasachstans, die in der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. begann, setzte dieser besonderen Wirtschaftsform ein Ende und leitete in die Zucht von Hornvieh und Pferden sowie eine einfache Landwirtschaft über.
Berichte geologischer Prospektoren begründeten in den 1920er Jahren die Montanarchäologie Kasachstans, die die vielen und reichen Gold-, Kupfer und Zinnminen erforschte. Dank den immensen Zinnvorkommen in Ostkasachstan und den damals beinahe unerschöpflichen Holzreserven zur Erzverarbeitung setzte ab etwa 2000 v. Chr. eine Produktion qualitativ hochstehender Waffen aus Zinnbronze ein, die der Arsenbronze überlegen war. Zinn und Zinnbronze waren begehrte Handelsgüter, so dass zwei Jahrtausende vor der klassischen Seidenstrasse eine Zinnstrasse nach Westen, Süden und nach Nordwestchina entstand.
Die von sogdischen Einwanderern initiierte Urbanisierung im Einzugsgebiet des Flusses Syr Darya wurde durch den Zweig der Seidenstrasse, der China mit Byzanz verband, beschleunigt. Als die turksprachigen Reiternomaden der Oghuzen in den 770er Jahren ihre zwischen Baikalsee und Altai gelegene Heimat verliessen und sich am Unterlauf des Syr Darya niederliessen, förderten sie den Handel; deshalb zerstörten sie die dortigen Städte nicht, sondern erweiterten sie. In den späteren 1940er Jahren erkundete der sowjetische Archäologe Sergei Tolstov einige Städte der Oghuzen. Auf seinen Spuren erforschen kasachische Archäologen wie Karl Baipakov und Dmitri Voyakin die im ehemaligen Flussdelta liegenden «Sumpfstädte» wie beispielsweise Juvara, das heutige Kesken Kyuyuk Kala. Die dortige Ausgrabung wird von der schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung EurAsiens mitfinanziert. Um Juvara handelte es sich vermutlich auch bei der Stadt Chauriana, die der römische Historiker Ammianus Marcellinus (etwa 330 – etwa 395/400) erwähnt.
Systematische Erforschung
Die systematische Erforschung der mittelalterlichen Städte Kasachstans begründete der kasachische Archäologe und Ethnograf Alkey Margulan (1904–1985). Seine Arbeit wird heute in der archäologischen Ausgrabung der mittelalterlichen islamischen Städte Otrar (samt ihren Satelliten), Kayalyk, Sauran, Taraz, Aktobe, Kyzyl Kala und Zhaiyk fortgeführt. Dank der Archäologie ist Kasachstan kein geschichtsloses, auf fremde Quellen angewiesenes Land, sondern es entdeckt immer neue Aspekte seiner reichen Vergangenheit.
Dr. Christoph Baumer ist Kulturforscher, Gründer und Präsident der Gesellschaft zur Erforschung EurAsiens sowie Buchautor. Vor kurzem ist der zweite Band seiner vierbändigen, englischsprachigen «History of Central Asia» (Verlag I. B. Tauris, London) erschienen.
1 comment:
Das die Botai-Pferde geritten wurden steht aber noch nicht fest. Man denkt eher daran das sie gemolken wurden und vielleicht auch einen Schlitten zogen. Auch als lebender Fleischvorrat wären sie denkbar.Es wäre auch hilfreich zu wissen ob diese Greifenfigur in paryzyk der paryzyk-kultur zugeordnet oder den Saken (wann) zugeordnet werden. Aber es ist schon ein interessantes land. über diese pentapolis würd ich gern mehr erfahren. man weiss viel zu wenig über asien.
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